Extraktionen auf dem Holzstuhl

Autorin: Julia Hilbk
Meine Schwester Johanna, die Zahnmedizin in Riga studiert, fragte mich, ob ich sie nach Afrika, genauer gesagt Kenia begleiten würde. Es ging um einen Einsatz von drei bis vier Wochen im Sommer mit der Hilfsorganisation „Dentists for Africa“ (DfA). Wenn sie als Zahnmedizinstudentin von einer deutschen Zahnärztin begleitet würde, dürfe sie auch Patienten untersuchen, bei Behandlungen assistieren und Prophylaxearbeiten durchführen. Begeistert von der Idee und dem Einsatz meiner Schwester stimmte ich zu. Unsere ersten Ideen, Zeitplanungen und auch Bedenken besprachen wir mit Dr. Gerd Hase vom erweiterten Vorstand von „Dentists for Africa“. Er hörte uns zu, berichtete von seinen eigenen Erfahrungen
und gab Tipps. Zusammen mit ihm beschlossen wir, dass es für uns Hilfseinsatz-Neulinge das Beste wäre, an einer Zahnstation zu arbeiten, die von einer kenianischen Zahnärztin betreut wird. „Dentists for Africa“ hat seit der Gründung vor 20 Jahren 14 Zahnstationen in Kenia errichtet und drei afrikanischen Zahnärztinnen das Studium der Zahnmedizin ermöglicht.
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SPENDEN IM GEPÄCKNachdem Einsatzort und -zeitraum festgelegt waren, begannen die Vorbereitungen. Um als Zahnärztin in Kenia arbeiten zu dürfen, braucht man einige Dokumente wie die Arbeitserlaubnis, um die man sich frühzeitig kümmern sollte. Für Studierende ist das Prozedere deutlich einfacher. Es genügt, die Vereinsmitgliedschaft bei DfA zu beantragen. Neben den Formalitäten spielte vor allem die Spendenakquise eine große Rolle bei der Vorbereitung. Dazu nutzte ich die IDS in Köln. Positiv überrascht war ich vom Interesse, das mir viele Firmen entgegenbrachten, und von den großzügigen Materialspenden: Insgesamt reisten wir mit über 50 Kilogramm Spenden im Gepäck. |
30 STUNDEN REISEZEIT
Um Ostern wuchs unser Team von zwei auf drei (angehende) Zahnärztinnen: Pia Brinkmann hatte im Februar ihr Staatsexamen gemacht und nun ebenfalls den Wunsch, sich ehrenamtlich zu engagieren, bevor das Arbeitsleben begann. So erreichten wir drei mit unseren sechs Koffern nach 30 Stunden Reisezeit von Dresden über Berlin, Frankfurt, Amsterdam Nairobi und Kisumu unser Ziel: Bungoma. Bungoma ist eine Kleinstadt im Westen Kenias, an der Grenze zu Uganda mit knapp 45.000 Einwohnern. Hier waren wir im Kloster der Franziskanernonnen, die auch das örtliche Krankenhaus leiten, untergebracht. Für einen kleinen Unkostenbeitrag erhielten wir in den drei Wochen unseres Einsatzes Unterkunft und Verpflegung.
UNSER ERSTER ARBEITSTAG
Am ersten Tag nach unserer Ankunft nahm uns Sister Sunya, die ansässige Zahnärztin, gleich mit zur Arbeit im wenige Minuten entfernten Krankenhaus. Dort lernten wir Ivan kennen, einen „Oral Health Officer“ aus Uganda, der seit einem Jahr in der „Dental Unit“ des St. Damiano Mission Hospital arbeitete. Im Behandlungszimmer sichteten wir den Inhalt der Schränke, sortierten Materialien und Instrumente, entsorgten abgelaufenes Füllungsmaterial und packten unsere Spenden aus, worüber sich unsere kenianischen Kollegen freuten.
Ein Arbeitstag in der Dental Unit des Krankenhauses beginnt um 9 Uhr und endet gegen 16 Uhr, bei wenig Patientenaufkommen auch mal früher. Einen Arbeitstag zu planen, ist nicht einfach, da sich die kenianischen Patienten kaum an Termine halten. Es kommt vor, dass an einem Tag bloß ein einziger Patient auftaucht und an anderen Tagen die Leute vor dem Zimmer Schlange stehen. Das war eine ziemliche Umgewöhnung für uns.
MUNDGESUNDHEIT FÜR SCHULKINDER
Ein Hauptanliegen von DfA ist es, Schulkindern den Zugang zur zahnärztlichen Behandlung zu ermöglichen und sie über das Thema Mundgesundheit aufzuklären. So besuchten wir gemeinsam mit Sister Sunya vier Schulen im Umkreis; davon drei weiterführende Schulen und eine Grundschule. An den Tagen vor den Schulbesuchen packten wir die Ausrüstung zusammen: Untersuchungsbesteck, Zahnputzmodelle, Desinfektionsmittel, Handschuhe, Mundschutz, Stirnlampen, Spritzen, Anästhetika, Hebel, Zangen, Tupfer, Schmerzmittel, Antibiotika und Dokumentationsbögen. Nachdem uns der Schulleiter begrüßt hatte, wurden die Schülerinnen und Schüler auf dem Schulhof versammelt. Dort wurde unser Team vorgestellt und uns das Wort übergeben. Gebannt schauten die Schüler auf uns. Wir begannen mit einer Zahnputzdemonstration und einem kurzen Vortrag über Mundhygiene.
Die Kinder haben größtenteils keinerlei Vorwissen. Ein Großteil der kenianischen Bevölkerung geht erst dann zum Zahnarzt, wenn die Schmerzen unerträglich sind, und so ist die häufigste Therapie die Zahnextraktion.
HÄUFIGSTE THERAPIE: ZAHNEXTRAKTION
Nach dem Vortrag arrangierten wir die Tische und Stühle oder Bänke in einem Klassenraum und breiteten unsere Ausrüstung aus. Die Schüler kamen gruppenweise ins „Behandlungszimmer” und wurden der Reihe nach untersucht. Eine große Hilfe war hierbei unser Fahrer Bernard, der fließend Suaheli und auch gutes Englisch sprach. Er erklärte den Schülern, was zu tun war, wo sie sich hinsetzen sollten oder rief sie zur Ordnung auf. Anfangs lief alles noch etwas holprig und chaotisch, aber nach kurzer Zeit spielte sich unser Team gut ein. Nach der Untersuchung und Dokumentation wurden extraktionswürdige Zähne im Regelfall direkt vor Ort entfernt. Nach den ersten zwei bis drei Extraktionen klappte auch das erstaunlich gut, aber natürlich war die Umstellung groß: Holzstuhl statt Behandlungsstuhl, Stirnlampe statt Beleuchtung, runterschlucken statt absaugen, alleine behandeln statt mit Assistenz, Englisch und gebrochenes Suaheli statt Deutsch.
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KAUM KARIESFREIE GEBISSEWas uns besonders zu schaffen machte, war der Zerstörungsgrad der Zähne. Es gab auch kariesfreie Gebisse, doch eine erhebliche Anzahl an Jugendlichen mit tief zerstörten Molaren. Bereits beim ersten Schulbesuch extrahierten wir bei 200 Schülern 35 Zähne. Die Diagnose zur Extraktion zu stellen, fiel besonders Johanna anfangs schwer – im achten Semester ist man es aus der Uni noch nicht gewöhnt, solche Entscheidungen ohne die Absicherung durch Assistenz, ohne Erhebung der Anamnese, ohne verlässliche Angaben zu Vitalität und Perkussionsempfindlichkeit und ohne Röntgenbild zu stellen. Doch mit jeder Untersuchung wuchs die Erfahrung. |
MIT JEDER BEHANDLUNG MEHR ERFAHRUNG
Für Behandlungen, die wir vor Ort nicht durchführen konnten, wie Füllungen, Scaling und PZR, gaben wir den Schülern ein Terminkärtchen, welches sie zur Behandlung in der „Dental Unit“ mitbrachten. Alle Behandlungen führten wir für die Schülerinnen und Schüler kostenlos durch. Um die Behandlungseffektivität zu steigern, riefen wir den nächsten Patienten bereits ins Behandlungszimmer, während der vorherige Patient noch behandelt wurde. Die Anamnese und gegebenenfalls Anästhesie vor Füllungen, ja sogar die Extraktionen konnten parallel auf einem Holzstuhl durchgeführt werden, damit die kostbare Zeit am Behandlungsstuhl maximal ausgenutzt wurde. Datenschutz ist da kein Thema. Nach dem dreiwöchigen Einsatz hatten wir noch eine weitere Woche Zeit, um den Strand an der Ostküste zu genießen und auf Safari zu gehen. In den Nationalparks Tsavo East und Amboseli sahen wir Elefanten, Zebras, Giraffen, Antilopen, Löwen, einen Gepard und viele weitere Tiere aus nächster Nähe und in freier Wildbahn.
Diesen Sommer werden wir so schnell nicht vergessen.
Weitere Informationen | |
www.zad-online.com |
http://dentists-for-africa.org/ |